Nächstenliebe auf Chinesisch am Beispiel vom Hua Ren Social Work Development Center  (成都市锦江区华仁社会工作发展中心), Chengdu

    

 

Eckehard Zühlke

 

Nächstenliebe auf Chinesisch

am Beispiel vom Hua Ren Social Work Development Center

(成都市锦江区华仁社会工作发展中心), Chengdu

 

Im Kontext des Besuchs der Leitung des Ev. Fröbelseminars an der Sichuan Universität im April 2014 hatten wir Kontakt zur Professor Wei Zhang (Soziale Arbeit) und zu Professor Yan (Kindheitspädagogik). Unser besonderes Interesse galt zunächst den Ausbildungsgängen für Sozial- und Kindheitspädagogik der Sichuan Universität und zu prüfen, ob ein Austausch von Dozenten und Studierenden möglich ist.

Im Vorfeld des Besuchs fanden vielfältige Absprachen mit dem IJAB (Fachstelle für den internationalen Jugend- und Fachkräfteaustausch) und den beteiligten Personen aus Chengdu und Kassel statt. Es wurde ein Programm für den Besuch in Chengdu verabredet, das neben dem universitären Ausbildungsgängen auch einen Einblick in die sozialpädagogische Praxis gewährt. So lernten wir neben einem Kindergarten, einer integrativen Grundschule auch das Hua Ren Social Work Development Center in Chengdu kennen und konnten über eine Besichtigung und Teilnahme an Gesprächskreisen eine hochinteressante vermutlich einmaliges nicht-staatliches Praxismodell für die Begleitung von Familie und Kindern inklusive Beratung von Fachkräften kennenlernen.

Im Januar 2013 gründete Professorin Wie Zhang mit ihrem Mann, Ximing Chen, das Chengdu Hua Ren Entwicklungszentrum für Soziale Arbeit. Das Wort „Hua“ bedeutet „chinesisch“, „Ren“ bedeutet „Nächstenliebe“. „Ich will mit dem Entwicklungszentrum für Soziale Arbeit den geeigneten Weg finden, chinesische Nächstenliebe in der Praxis umzusetzen“, sagte Frau Zhang in einem Gespräch. „Es sollen vor allem die Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und der Familien im Vordergrund gestellt werden. Wenn man in China von Erziehung spricht, denkt man nur an die Schulbildung. Die Eltern, Kinder und Lehrer sind viel zu sehr auf die Schulleistungen fokussiert und der Leistungsdruck der Kinder ist hoch.“ Oft wissen die Eltern nicht, wie sie mit dem Druck von Seiten der Lehrer umgehen sollen und geben diesen weiter an die Kinder. Dieser Teufelskreis verursacht viele Familienprobleme. „Ich will die Sozialpädagogik als dritte Erziehungs- und Bildungsinstitution neben Familienerziehung und Schulpädagogik in

China etablieren und aufbauen, um die Sozialisierungsfunktion der Familien zu ergänzen und zu unterstützen. Also die Lücke der Sozialpädagogik in China füllen“, so Zhang.

Das erscheint mir als eine historisch bedeutsame Pionierarbeit auf dem Gebiet der sozialen Arbeit in China. Die Einrichtung wird aus privaten Mitteln der Gründer finanziert.

Unsere Bundeskanzlerin, Frau Angela Merkel, hat bei ihrem Besuch im Sommer 2014 diese Einrichtung ebenfalls besucht, ohne dass dieses Ereignis besonders in der Öffentlichkeit erwähnt wurde. Ich sehe im Besuch von Frau Merkel eine hohe Anerkennung einer ausgewöhnlich kompetenten, notwendigen und engagierten Arbeit des gesamten Teams des Hua Ren Development Centers.

Herr Chen sagt zu seinen Motiven für das soziale Engagement, das „die Familienerziehung in China sehr schwach ausgeprägt ist oder ganz fehlt.“ Dieses Problem ist nach seiner Auffassung sehr groß und wenig transparent und zeigt sich beispielsweise in negativen Entwicklungen für Kinder, schwierigen Familienbeziehungen und letztlich der Stabilität in der Familie.

 

 

An den Kindern werden oft die Probleme einer Familie deutlich. Es sind aber nicht die Probleme des Kindes, sondern das Kind „präsentiert“ es. „Wir nehmen das gezeigte Problem als Ausgangspunkt für unsere Arbeit und als Zugang zur ganzen Familie“ führt er aus.

„Wir wollen die Konzepte und die Praxis der Sozialpädagogik mit chinesischen Verhältnissen, Kultur und Denk- und Verhaltensmerkmalen verknüpfen, erproben und erforschen. Frau Zhang möchte mit Praxisforschungsansätzen ihre gewählten Ansätze der sozialen Arbeit erforschen und ihr ist auch wichtig, dass die sozialen Dienstleitungen für Kinder und Familien kostenlos bleiben. Für ihre Studierenden aus dem Bachelor und Masterstudiengang der Sichuan Universität bieten sich im Hua Ren Development Center auch gute Praktikumsplätze. Ihr ist aber auch bewusst, dass noch einige Brücken zu bauen sind. Gerade auch zur Regierung und Verwaltung und zur Hochschule. Sie möchte über dieses Modell auch eine Plattform für einen Fachaustausch auf nationaler und internationaler Ebene ermöglichen.

Was wird nun im Hua Ren Entwicklung Zentrum tatsächlich gemacht und welche Ziele und Methoden sind wichtig?

Ausgangspunkt der sozialen Arbeit ist die Familie. Kinder zeigen oft Schul- oder Leistungsprobleme, die oftmals im Kontext von Familien entstehen. Die dortigen

Beziehungen zwischen den Eltern, oder Eltern und Kind sowie zu anderen Subsystemen bedingen den psychosozialen Zustand des Kindes. Es ist eine sozialökologischer Verstehenshintergrund. Die theoretische Grundlage für diesen Ansatz legte in den 1980er Jahren der Entwicklungspsychologe und Sozialökologe Urie Bronfenbrenner. Er geht von der Annahme aus, dass sich die menschliche Entwicklung vom Individuum selbstbestimmt und eigenaktiv in einem ständigen Auseinandersetzungsprozess mit seiner Umgebung vollzieht.

In Vortragsveranstaltungen in Schulen oder auch auf Elternabenden wird dieser Ansatz den betroffenen Eltern vermittelt. Ebenso werden die Studierenden mit diesem sozialpädagogischen Ansatz im Studium vertraut gemacht, so dass sie ihre Praktika kompetent in der Einrichtung mit praktischen Erfahrungen bereichert durchführen können. Die Masterstudenten lernen zusätzlich Konzepte der Familienberatung und Gesprächsführung und können schon aktiv und selbständig allerdings an Supervision gebunden im Familienzentrum mitwirken. Neben der Beratung von Familien gibt es außerschulische Erziehung und Hausaufgabenhilfe, Bewegungserziehung, Eltern- und Kindergruppen.

 

 

Die Familiengruppen sind besonders wichtig. Hier wird an konkreten Situationen gearbeitet

und gemeinsame Lösungen entwickelt. Ansätze und Methoden der systemischen Familienberatung werden hier angewandt.

Letztlich kommt es darauf an, die Kinder und deren Familien selbstbewusster zu machen und

die konstruktiven Potentiale zu stärken.

Beispiele: Eine Patchwork-Familie: Frau H., 36 Jahre alt, hat in der ersten Ehe einen Sohn geboren und nach der Scheidung wiedergeheiratet. In der zweiten Ehe bekam sie eine Tochter. Der Sohn ist heute 11 Jahre alt. Die Mutter sucht im Hua Ren um Hilfe wegen folgender “Probleme” ihres Sohns: schlechte Schulleistungen, kann sich nicht konzentrieren beim Lernen, kein Selbstbewusstsein. Er macht sich sehr von Mutter abhängig.

 

Die Mutter und ihr Sohn haben 3 Angebote von Hua Ren in Anspruch genommen. Zunächst besuchen sie einen Abendkurs für die Kinder (Verhaltenserziehung inkl. Hausaufgabenhilfe) von Montag bis Freitag jeweils abends für 2 Stunden. Die Mutter arbeitet dort ehrenamtlich.

Weiterhin nahmen sie an einer Familiengruppe einmal in der Woche teil, in der es um Klärung, Aufarbeitung und Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung und deren Kommunikation ging. Die Beziehung sollte verbessert werden, so dass eine zunehmend tragfähige Bindung zwischen Kind und Mutter sich wieder herstellen. Schließlich nahm der Sohn an der Kindergruppe (jeden Samstag) teil. Bachelorstudenten übernehmen diese Arbeit. Hier sollen über z.B. Sport- und Spielaktivitäten Selbstbewusstsein und soziale Kompetenzen der Kinder gestärkt werden beispielsweise.

Nach einem halben Jahr, so die Mutter, hat sich viel geändert in ihrer Wahrnehmung des Jungen, vor allem durch die Selbstreflexion. Die Mutter meint, dass die „Wand zwischen den Beiden“ verschwunden ist und sie jetzt herzlich dem Kind zuhören kann und seine Gefühle wahrnimmt und fühlt sich erheblich erleichtert. Das Kind ist fröhlicher und selbstbewusster.

Am Beispiel einer Wanderarbeiterfamilie: Die Eltern kommen vom Land und leben seit einigen Jahren in Chengdu. Sie haben 2 Kinder: einen Sohn, 8 Jahre alt und eine Tochter von 6 Jahren. Der Vater hat im Hua Ren Beratung wegen Verhaltensauffälligkeiten seines Sohnes gesucht:

Er bringt keine guten Noten nach Hause und hat kein Selbstbewusstsein. Der Berater von Hua Ren hat Einzel-, Paargespräche geführt und auch mit dem Kind gesprochen. Der Berater hat erfahren, dass der Vater häufig seinen Sohn beschimpft und auch geschlagen hat und zwar auch dann, wenn er selbst schlechte Laune hatte oder die“ Geschäfte nicht gut liefen“. Er selbst wurde in der Kindheit oft von seinen Eltern geschlagen. Er sagt seinem Sohn oft, dass die Familie vom Land kommt, er fleißig lernen sollte, damit er als ländlicher Mensch nicht niedrig angesehen wird.

 

Hua Ren hat diese Familie folgendermaßen begleitet: Die Familie wurde intensiv beraten. Auch wurden Ratschläge für eine gewaltfreie Erziehung gegeben. Das Kind hat am Verhaltenserziehungskurs teilgenommen. Ein Berater (ein Masterstudent) hat eine enge Beziehung zu der Familie aufgebaut und das Kind oft zu einer Buchhandlung begleitet, um Literatur zum Lesen zu besorgen. Das Kind malt auch gerne. Der Berater hat für das Kind eine eigene Bilderausstellung im Hua Ren organisiert, um seine Stärke zu stärken und sein Selbstbewusstsein zu steigern.

Eines Tages hat das Kind hat zum ersten Mal die beste Note in seiner Klasse und die Eltern sind sehr überrascht und dankbar. Das Kind ist fröhlich und glücklich darüber geworden.

Sein Vater hat gelernt, dass über Gewalt nichts zu erreichen und will seinen Sohn nie wieder schlagen.

 

Die Lebenswelten von Familien in China sind sehr komplex und im Wandel begriffen. Diese zu verstehen und die Auswirkungen auf Kinder zu erfassen verlangt eine umfassende Betrachtung. Familien sind herausgefordert durch:

- Durch einen starken Modernisierungsschub in Wirtschaft und Technik, aber auch im Alltagsleben (Medienwelten),

- diese Entwicklung ist regional sehr unterschiedlich und differenziert sich nach Regionen und Stadt und Land;

- die traditionelle Bedeutung der Familie (Konfuzius) und ein modernes Zusammenleben sind nicht immer passend;

- der Einfluss der Medienwelten ist stark, insbesondere bei der jungen Generation;

- die Arbeitssituation von Frauen und Männern hat sich verändert. In China gibt es über 200 Millionen Wanderarbeiter,

- die Betreuung und Erziehung von Kindern ist gesellschaftlich gut geregelt. Kindergärten, Vorschule sind vorhanden und auch zunehmend integrative Schulen. Fachkräfte dafür haben einen guten Bildungsstand. Wie steht es mit der Erziehung in der Familie?

- Die Familienpolitik hat sich ab 2003 von der Ein-Kind-Familie abgekehrt. In bestimmten Familienkonstellationen sind mehrere Kinder möglich.

- Die Mehrgenerationenfamilie gibt es zunehmend weniger. Was passiert mit alten Menschen? Wie gehen Jung und Alt zusammen?

- U.v.m.

Es gibt im Kontext von „Sozialer Arbeit“ bezogen auf die Lebenswelten von Familien noch viele offene Fragen, die speziell erforscht und untersucht werden müssten. Die Forschung in der Sozialen Arbeit scheint mir wichtig zu sein um Erklärungen zu finden, um letztlich Begleit - und Unterstützungsansätze für Familien und Kinder zu entwickeln, die in chinesische Verhältnisse passen. Aus meiner Sicht ist gerade deswegen der direkte Bezug der Sichuan Universität zum Hua Ren Development Center von besonderer Bedeutung und beispielhaft.

Das Evangelische Fröbelseminar möchte den Kontakt nach China ausbauen, vertiefen und vor allem durch gemeinsame Fachtagungen und Begegnungen die Arbeit vom Hua Ren

Development Center unterstützen. Dazu können Fachdozenten aus China zu uns nach Kassel und Korbach kommen, unser Familienzentrum und unsere Fachausbildungen kennenlernen. Im Ev. Fröbelseminar gibt es viele Fachdozenten mit sozialpädagogischen, supervisorischen, familientherapeutischen und psychotherapeutischen Kompetenzen, die zu Fachgesprächen gern bereit sind. In unserem Forschungsverbund mit der Universität Kassel könnten Ansätze von qualitativer Praxisforschung kennengelernt werden und geprüft werden, inwieweit diese für Forschungsfragen im Hua Ren Development Center sich eignen. Aus unserem Hause können Dozenten und Studierende in China eine engagierte „Soziale Arbeit“ im Gemeinwesen kennenlernen und interkulturelle Kompetenz erwerben.